Fachtag Partizipation, Selbsthilfe und Selbstorganisation der BAG-Wohnungslosenhilfe e.V. am 04.08.2010 in Kassel

Neue Wege zur Teilhabe von Betroffenen

AG 5 Betroffenenbeteiligung in Europa – wie soll das gehen?

Im Rahmen der im Dezember in Brüssel stattfindenden Konsensuskonferenz werden auch auf europäischer Ebene Fragen einer europäischen Betroffenenbeteiligung diskutiert werden. Daran anknüpfend soll die Arbeitsgruppe einen generellen Blick auf Vernetzungsmöglichkeiten auf europäischer Ebene werfen.

Moderation und Vorstellung der Ergebnisse: Dr. Stefan Schneider (www.eisop.org)

Co-Moderation und Protokollnotizen zur AG: Jürgen Schneider (www.berber-info.de)

12 Menschen nahmen an dieser Arbeitsgruppe teil. Nachfolgend wird der Diskussionsverlauf zusammengefasst wieder gegeben.

Informationen zur Tagung und zur Partizipation Wohnungsloser in Europa. Kritisiert wird, dass die Informationen zur Fachtagung sehr spät vorlagen und nicht ausführlich genug sind. Welches sind die Hintergründe dieser Tagung, was soll erreicht werden, in welchem Kontext steht diese Tagung und wie sieht der Gesamtprozess aus? Auch war es kaum möglich, Informationen über das Thema Vernetzung Wohnungsloser in Europa zu erhalten, auch nicht im Internet. Hier besteht dringender Verbesserungsbedarf, aber auch die Notwendigkeit, selber Informationen über Aktionen zur Teilhabe Wohnungsloser und europaweite Aktionen und Initiativen ins Internet zu stellen.

Forderungen. Forderungen auf europäischer Ebene könnten sein, dass es europaeinheitlich keine Spekulation mit Gebäuden mehr geben darf, um sicher zu stellen, dass Gebäude auch tatsächlich primär zu Wohnzwecken genutzt werden. Ein weiterer zentraler Punkt ist, dass es gleiche und einheitliche Zugangsrechte in allen Ländern zu Sozialleistungen geben muss. Beide Punkte werden nur andiskutiert. Es ist klar, dass hier genauere Überlegungen angestellt werden müssen, wie das funktionieren soll.

Konsensus-Konferenz. Nachgefragt wurde zur Konsensus-Konferenz. Stefan Schneider berichtet, dass er und Brigitte Hartung von der Initiative Bauen Leben Arbeiten, Köln unabhängig voneinander angesprochen worden sind, für Deutschland eine solche Befragung zu 5 in allen beteiligten Ländern gestellten einheitlichen Fragestellungen durchzuführen. Pfingsten 2010 haben sie den Fragebogen ins Deutsche übersetzt und die Befragung durchgeführt. Insgesamt gab es etwa 50 Rückmeldungen. Die Ergebnisse werden jetzt in den nächsten Tagen zusammengefasst und veröffentlicht.

Analyse. Es folgt eine zum Teil hitzige Diskussion über die Gründe und Ursachen von Wohnungslosigkeit und den Zustand und Sinn von Teilhabe Wohnungsloser. Viele betonten, dass es keine Lobby von und für Obdachlose gäbe und dass die Wohnungslosenhilfe von der Tendenz her eher ihre eigenen Interessen verfolgen würde und nicht die der Wohnungslosen. Aber auch viele Wohnungslose selbst hätten kein Interesse, sich für ihre Belange einzusetzen. Angesprochen wurde auch, dass manche Teilnehmer den Eindruck haben, bei dieser Tagung und ähnlichen Veranstaltungen um Pseudobeteiligung handeln würde. Eine wirkliche Mitbestimmung Wohnungsloser und eine authentische Vertretung sei insbesondere von den Leitungen der Wohlfahrtskonzerne nicht gewollt. Es seien auch Prozesse zu beobachten, insbesondere auf den höheren Ebenen gezielt Wohnungslose gefördert werden, die als weniger kritisch, als "pflegeleicht" gelten. Im Grunde ist die Betroffenenvertretung selbst – zugespitzt ausgedrückt – genauso korrumpiert wie die Wohnungslosenhilfe selbst. Letztlich ohne konkretes Ergebnis diskutiert wird die Frage, ob die Wohnungslosenhilfe selbst verändert werden kann oder aber ob es notwendig und möglich ist, eigene, unabhängige Vertretungsstrukturen aufzubauen. Problematisiert wird auch, ob die Politik der richtige Ansprechpartner ist für Forderungen, oder ob es darum geht, unabhängig von Politik an neuen Strukturen zu arbeiten.

Sprachbarrieren – deutschsprachige Informationen. Am Beispiel des Portals des Europäischen Dachverbandes der Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe FEANTSA (www.feantsa.org) wird die Forderungen diskutiert, dass es in diesem Portal mehr deutschsprachige Informationen geben müsste. Dies gilt auch für alle anderen Portale, bei denen es um europäische Vernetzung bzw. um Informationen über Selbsthilfeinitiativen Wohnungsloser in Europa geht. Denn viele Wohnungslose sprechen weder Englisch noch Französisch. Zugleich wird aber festgehalten, dass die Übersetzungsfrage nicht das Hauptproblem europäischer Vernetzung ist.

Partizipation – Teilhabe – Demokratie - Mehrwert. Nach der Pause beginnt das Gespräch mit der Frage nach der Bedeutung des Wortes Partizipation. Anhand der Übersetzung mit dem Wort Teilhabe werden sehr unterschiedliche Erfahrungen beschrieben. Ein Teilnehmer berichtet, dass nach seinen Eindrücken in seiner stationären Einrichtung Mitarbeit, Mitwirkung und eigenen Vorschläge von Klienten eigentlich nicht erwünscht seien. Teilnehmer aus Offenburg berichten Erfahrungen, dass in ihrer Einrichtung die Demokratisierung sehr weit fortgeschritten sei, so wird die Hausordnung von allen Bewohner_innen mitgetragen und auch über Hausverbote wird in der Gruppe abgestimmt. Demokratie in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe einzuführen ist – abgesehen von den wenigen Beispielen – in denen das praktiziert wird, eine konkrete Forderung an die Wohnungslosenhilfe und aber auch eine Utopie. Verlangt und gefordert wird, dass alle Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe die Wohnungslosen besser fördern sollen und die Voraussetzungen dafür schaffen sollen, dass sich die Wohnungslosen mit ihren Kompetenzen auch tatsächlich einbringen können. Dieser Anspruch bezieht sich nicht nur auf Einzelne, auf Strukturen, die in der Wohnungslosenhilfe (weiter) zu entwickeln sind. In dem Maße, in dem Wohnungslosenhilfeeinrichtungen diesen Prozess betreiben, entsteht ein Mehrwert. Andere werden auf die Einrichtung aufmerksam, Unschlüssige fühlen sich ermutigt, sich ebenfalls zu engagieren, Dritte werden auf die Initiativen aufmerksam usw. Insgesamt entsteht so eine Einrichtung, in der sich etwas bewegt.

Entlohnung. Wenn von Beteiligung die Rede ist, muss auch über Entlohnung gesprochen werden, dieses Thema gehört selbstverständlich dazu. Dabei reichen die Positionen von der Auffassung, dass eine Bezahlung orientiert an den gesetzlichen Mindestlöhnen zu erfolgen habe bis hin zu der Position, dass allein schon die Möglichkeit zum Mitmachen ein Wert für sich sich darstellt und viele Menschen dankbar sind, sich engagieren zu können.

Rechtliche Grundlagen. In vielen anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens sind Beteiligungsstrukturen gesetzlich bzw. rechtlich verankert. Andiskutiert wurde die Fragestellung, dass dies in der Wohnungslosenhilfe ebenso zu erfolgen hätte und inwieweit das Sozialgesetzbuch das bereits vorsieht.

Ängste der Sozialarbeiter_innen. Kritisch reflektiert wurde auch die Rolle der Sozialarbeiter_innen im Prozess einer zunehmenden Beteiligung Wohnungsloser. Bestehende Existenz- und Zukunftsängste, die Sorge, dass die eigenen Arbeit überflüssig werden könnte, waren Bestandteil der Überlegung zur Situation der Sozialarbeiter_innen in den Einrichtungen in Verbindung mit Erwartungsdruck von der Leitung und Arbeitsüberlastung. In der Debatte erfolgte der Hinweis, dass der durch Beteiligungsstrukturen entstehende Mehrwert der Schlüssel zum Abbau der Ängste sein könnte.

Perspektiven. Abschließend äußerten sich die Teilnehmer_innen der AG zu ihren zentralen Wünschen. Genannt wurden folgende Themen.

a) Ausschlafen können. Gemeint ist, dass Treffen zur Teilhabe und zur Vernetzung wohnungsloser mehr Zeit erfordern und nicht an einem Tag durchgezogen werden sollten

b) Europa soll vorwärts kommen. Eine Verbesserung der Teilhabe und Selbstorganisation Wohnungsloser kann nur auf europäischer Ebene gelingen, in dem an einem sozialen Europa gearbeitet wird.

c) Bündelung. Ziel muss es sein, eine Bündelung von (bereits bestehenden) Initiativen und Plattformen zu erreichen. Diese sollen verbessert, verstärkt und zusammen gebracht werden.

d) Ein Teilnehmer äußerte die Vorstellung, dass dabei auch die Politik einbezogen werden solle. Diese Position wurde nicht von den anderen geteilt.

e) Öffentlicher Personenverkehr. Um die Selbstorganisation und Teilhabe Wohnungsloser zu befördern, ist es erforderlich, dass der öffentlich Personenverkehr weiter ausgebaut wird (Anreise mit Bus, Bahn etc.).

Schlussdebatte. In der kurzen Schlussdebatte zu den Perspektiven der Partizipation wurden sowohl pessimistische ("Das nützt nix") als auch optimistische Positionen ("Engagement bringt immer was") vertreten.

Für die Richtigkeit

Stefan Schneider, 08.08.2010

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